„Die Nazis sind nicht mit Ufos gelandet“

Das mobile Geschichtslabor „Wo fängt Unrecht an?“ des Lernortes Kislau kombiniert die NS-Vergangenheit mit Gegenwart und Zukunft der Demokratie und lädt vor allem Schulklassen ins Dokumentationszentrum ein.

Eine Frau erklärt Publikum eine Station zur "Volkgsemeinschaft" in der Ausstellung "Wo fängt Unrecht an? Das mobile Geschichtslabor zum KZ Kislau"
(Foto: Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma)

Mit gesenktem Kopf stehen die sechs Männer an der Hauswand. Von der Straße aus sind sie nur von hinten zu sehen. Dennoch lässt sich unschwer erkennen, dass sie Arme und Hände verschränkt vor dem Bauch halten. Schnell macht das Foto in den Sozialen Medien die Runde. Ein riesiges Kreuz markiert das Gebäude nämlich eindeutig als Kirche. Und ein User glaubt ganz genau zu wissen, was sich dort abspielt: „Sechs Neubürger urinieren an das christliche Gotteshaus.“ Der Sturm der Empörung ob dieser „Sauerei“ lässt nicht lange auf sich warten.

Doch stimmt das überhaupt? Gibt es keine andere Erklärung? Und was soll der Begriff „Neubürger“ vermitteln? Diese Fragen können im mobilen Geschichtslabor „Wo fängt Unrecht an?“, das bis zum 7. März im Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma geöffnet hat, dank verschiedener „Fake Detektoren“ beantwortet werden. Überdies verdeutlicht diese Doppelstation eindrücklich, dass etliche Gemeinsamkeiten zwischen NS-Propaganda und „Fake-News“ bestehen.

Genau das ist das Konzept des interaktiven Mitmachformats: Die Vergangenheit wird mit der Gegenwart kombiniert. Und so wird ausgehend von der Geschichte des einstigen Konzentrationslagers Kislau insbesondere jungen Menschen aufgezeigt, wie sehr die NS-Zeit ihre eigene Lebenswirklichkeit und Zukunft tangiert. Konzipiert hat diese ungewöhnliche Form der Vermittlung das wissenschaftliche Team des Lernortes Kislau e.V., mit dem das Dokumentationszentrum nach der Ausstellung „Auftakt des Terrors“ zu den frühen Konzentrationslagern nun zum zweiten Mal kooperiert.

„Man kann Diktatur nicht begreifen, wenn man nicht auch die Demokratie in den Blick nimmt und umgekehrt“, betonte dessen Wissenschaftliche Leiterin Dr. Andrea Hoffend bei der Eröffnung des Geschichtslabors, zu der zahlreiche Gäste in der Bremeneckgasse 2 begrüßt werden konnten.

Deshalb setzt der zeitliche Rahmen auch bereits 1918 mit der Weimarer Republik ein. „Die Nazis sind 1933 schließlich nicht mit Ufos gelandet“, bringt es Mitarbeiterin Fabienne Bitz auf den Punkt. Der Übergang zum Unrechtsstaat verlief vielmehr schleichend.

Eine Frau stellt die Ausstellung "Wo fängt Unrecht an? Das mobile Geschichtslabor zum KZ Kislau" vor. Hinter ihr ist eine Station der Ausstellung zu sehen.
(Foto: Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma)

Im KZ Kislau nahe Heidelberg wurden zwischen 1933 und 1939 mehr als 1500 Männer inhaftiert – darunter viele politische Gegner des Nationalsozialismus. Damit gehörte das einstige Bischofsschloss bei Bad Schönborn zu den frühen Konzentrationslagern im Deutschen Reich. „In diesen Lagern hat man schon mal ein bisschen geübt, für das, was dann später kam“, so Andrea Hoffend. Allerdings bestand dieses KZ wesentlich länger und war nach 1935 gar das einzige Lager in Süddeutschland – neben Dachau. „Aus diesem Grund hat Kislau auch andere Häftlingsgruppen gesehen.“ Darunter waren zahlreiche Männer aus der Rhein-Neckar-Region. Etwa der Heidelberger Ingenieur Friedrich Karlebach, der im August 1935 als sogenannter „Rasseschänder“ nach Kislau verschleppt wurde. Die NS-Schergen bezeichneten ihn im „Personalbogen“ als „typischen Juden“. Vier Monate lang war er interniert. Um vor weiteren Repressalien sicher zu sein, floh er mit seiner Familie zunächst nach Großbritannien und dann weiter in die USA.

Oder der Schriesheimer Kommunist Oskar Siebig, der im November 1933 in Kislau eingesperrt wurde. Nach drei Monaten wurde er zwar entlassen, musste aber letztlich mit einem Strafbataillon zum Fronteinsatz nach Russland. Dort geriet er bis 1946 in Kriegsgefangenschaft.

Gleich zu mehreren Stichworten haben die Ausstellungsmacherinnen biographisch gearbeitet. Zum Beispiel zu Widerstand und Verfolgung in Baden. „Wir versuchen, durch eine Zuordnungsaufgabe zu verdeutlichen, dass Widerstand nicht erst 1933 eingesetzt hat“, sagte Fabienne Bitz. Dabei lassen sich selbst Quellen studieren und Häftlingsunterlagen lesen.

Insgesamt besteht das mobile Geschichtslabor aus acht Doppelstationen, die sich aus zehn maßgefertigten Holzelementen zusammensetzen. „Wir nennen es Labor, weil die Besucherinnen und Besucher Theorien überprüfen und Neues ausprobieren sowie eigene Thesen aufstellen können“, so die Historikerin.

Den Startpunkt des Rundgangs markiert die titelgebende Frage: „Wo fängt Unrecht an?“, mit der insbesondere die Jugendlichen „in ihrer Gegenwart abgeholt werden“. Es folgt die Beschreibung des KZ Kislau. Dass ein solch schrecklicher Ort in einem Schloss untergebracht war, könnten sich sie meisten Jugendlichen nicht vorstellen, berichtete die wissenschaftliche Mitarbeiterin von den Begegnungen mit Schulklassen. Und sie fügte hinzu: „Unser Geschichtslabor spricht aber genauso Erwachsene an.“

Fast alle Stationen sind interaktiv gestaltet: Klappen, Schiebereg­ler und Drehelemente laden dazu ein, Inhalte zu entdecken, sich miteinander auszutauschen und Stellung zu beziehen. Etwa zu den Grundlagen der Demokratie oder den Grundrechten. Zudem können eigene Diskriminierungserfahrungen thematisiert werden. Drei Motion-Comics können dann noch zum Schluss auf einer Videostation angeschaut werden. Die animierten Filme erzählen die Schicksale inhaftierter Personen.

Am Eingang liegen „Labor-Hefte“ aus, die weitergehende Informationen und Anregungen bieten. Dies lässt sich auch als Begleitmaterial sowie zur Nachbereitung nutzen. Darin findet sich übrigens auch eine Check-Liste, um „Fake News“ zu entlarven. Und die hilft auch, den Facebook-Post zu den Männern vor der Kirchenmauer als Lüge zu entlarven. Dabei handelt es sich nämlich um Christen aus Eritrea. Der Tradition ihres Landes entsprechend verrichten sie ihr Gebet nicht in einer Münchener Kirche, sondern davor. Das haben sie vorher auch mit der Gemeinde abgesprochen. Trotzdem wurde das Foto erfolgreich für fremdenfeindliche Hetze missbraucht. Für die auch der Begriff „Neubürger“ ein Beleg ist. Denn wie „Gutmensch“ hat dieses Wort eine ironische und abwertende Bedeutung. Wer andere als „Neubürger“ bezeichnet, meint damit eigentlich: „Diese Menschen sind Fremde und werden niemals wirklich dazugehören.“

Das mobile Geschichtslabor kann zu den Öffnungszeiten des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma besucht werden. Schulklassen können sich unter info@sintiundroma anmelden.

von Heidrun Helwig