Seit Frühjahr 2022 treffen sich Angehörige der Sinti und Roma mit jüdischen Familien, um über ihre familiäre Erinnerungskultur zur nationalsozialistischen Verfolgung zu sprechen. Gerade die Auseinandersetzung mit diesen Erfahrungen wird für die Nachfolgegeneration immer wichtiger. Traumatische Erfahrungen in den Familien sollen gemeinsam aufgearbeitet werden.
Das Heidelberger Bündnis „Gemeinsam Zeitzeugenschaft im Generationswechsel begegnen“ unter der Federführung des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma bringt erstmals Überlebende der Sinti und Roma und Jüdinnen und Juden aus der Jüdischen Kultusgemeinde Heidelberg zusammen. Gemeinsam ist ihnen die Erfahrung des nationalsozialistischen Unrechtsstaates, der Verfolgung und Ermordung ihrer Angehörigen. Nach 1945 mussten beide Gruppen lernen, sich mit dem rassenideologischen System des NS-Staates und dem staatlich betriebenen Völkermord auseinanderzusetzen. Ihre Erfahrungen mit Antiziganismus und Antisemitismus enden damit nicht. Sie sind auch heute noch, fast acht Jahrzehnte nach dem Ende der Diktatur in Deutschland, im Alltag erlebbar.
Das Besondere des Bündnisses ist, dass sich die wenigen Überlebenden und ihre Nachkommen aus mehreren Generationen treffen und austauschen. „In einem geschützten Rahmen wollen wir den Austausch zwischen beiden Gruppen ermöglichen und so einen neuen Zugang zur historischen Aufarbeitung schaffen“, so der Ansatz des Bündnisses.
Beim ersten Workshop am 15. Mai 2022 in der Jüdischen Kultusgemeinde Heidelberg trafen sich zum ersten Mal beide Gruppen. Die älteste Teilnehmerin war 83 und die jüngste 17 Jahre alt. Schnell wurde deutlich, dass beide Gruppen gerne mehr über die ihnen noch unbekannte Geschichte und Kultur ihres Gegenübers erfahren wollten.
Seitdem haben acht Begegnungen mit unterschiedlichen Schwerpunkten stattgefunden. Zwei besondere Treffen sind hervorzuheben: Der Filmabend im Dokumentationszentrum „Gipsy – Die Geschichte des Boxers Johann Rukeli Trollmann“ von 2012 mit Hannelore Elsner als Hauptdarstellerin und Hannes Wegener in der Rolle des Trollmann. Der Film zeige das gemeinsame Schicksal von Sinti und Roma und Jüdinnen und Juden in Europa unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, so die einhellige Meinung der Anwesenden. Mit der Gedenkfahrt zum Erinnerungsort „Europäisches Zentrum des deportierten Widerstandskämpfers. Ehemaliges Konzentrationslager Natzweiler-Struthof“ verdeutlichte die Trauer, die Wut und die angetan hat.
An diesem konkreten Ort der Erinnerung an die Schreckensherrschaft der deutschen Bürokratie werden die Folgen dieser Katastrophe für die Überlebenden und die nachfolgenden Generationen bis heute sichtbar. Das Trauma des Überlebens wird an die nächste Generation weitergegeben – eine weitere Parallele zwischen den beiden Gruppen. Deshalb ist es wichtig, dass solche Orte, die Zeugnis ablegen von Terror, Haftbedingungen, Folter, medizinischen Experimenten und gewaltsamem Tod, über Generationen wachgehalten werden. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Heidelberger Bündnisses sind sich durch den Besuch noch nähergekommen.
In den verschiedenen Workshops mit Dr. Kurt Grünberg ging es um die „Transgenerationale Tradierung eines extremen Traumas“. Grünberg hat sich am Frankfurter Sigmund-Freud-Institut auf das Forschungsgebiet „Psychosoziale Spätfolgen der nationalsozialistischen Judenvernichtung in Deutschland“ sowie „Szenisches Erinnern der Shoah“ spezialisiert. Das praktische Konzept des „Szenischen Erinnerns an die Shoah“ wird durch dokumentarische Interviews und durch die Theaterpädagogin Nedjma Schreiner aus Mannheim umgesetzt. Die Gruppe ist aufgefordert, ihre Erfahrungen aktiv einzubringen.
Das Heidelberger Bündnis wird über das Programm „Lokale Bündnisse für Überlebende von NS-Verfolgung in Deutschland“ von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ)“ gefördert.
Die Bündnispartner sind die Jüdische Kultusgemeinde Heidelberg, der Verein Mosaik Deutschland, das Amt für Chancengleichheit der Stadt Heidelberg, die Forschungsstelle Antiziganismus der Universität Heidelberg, „Heidelberger Lupe – Verein für historische Forschung und Geschichtsvermittlung“ sowie die Theaterpädagogin und Schauspielerin Nedjma Schreiner.

