Am 2. August 2024 wurde der 80. Jahrestag mit den letzten Überlebenden des Holocaust an Sinti und Roma mit einer zentralen internationalen Gedenken zum Europäischen Holocaustgedenktag für Sinti und Roma 2024 am Ort dieses Menschheitsverbrechens begangen.
Vor 80 Jahren, am 2. August 1944, wurden die noch verbliebenen 4.300 Sinti und Roma im deutschen NS-Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau von der SS ermordet. In Erinnerung an alle 500.000 Angehörigen der Minderheit, die im NS-besetzten Europa getötet wurden, erklärte das Europäische Parlament 2015 dieses Datum zum Europäischen Holocaust-Gedenktag für Sinti und Roma.
Die SS hatte bereits am 16. Mai 1944 versucht, den Lagerabschnitt B II e aufzulösen und Tausende Angehörige der Minderheit in den Gaskammern zu ermorden. Diese Vernichtungsaktion wurde wegen des erbitterten Widerstands der Sinti und Roma abgebrochen – wohl auch, um zu verhindern, dass die Gegenwehr auf andere Lagerabschnitte übergreift.
Historische Erinnerung bedeutet immer auch gelebte Verantwortung für die Gegenwart. Wenn wir 80 Jahre nach Kriegsende, an die NS-Verbrechen und den Holocaust erinnern, müssen wir uns gleichzeitig für Rechtsstaatlichkeit und eine lebendige Demokratie in der Gegenwart einsetzen. Deshalb befasst sich der Jahrestag auch mit dem zunehmenden Antiziganismus, Antisemitismus und Rassismus in Europa und weltweit. Die Staaten der Welt sind aufgerufen, dem Vermächtnis von Auschwitz gerecht zu werden und diesen Entwicklungen entschieden entgegenzutreten.
Alma Klasing, Überlebende des Holocaust, die nahe Angehörige in Auschwitz verloren hat, betonte in ihrer Ansprache in Auschwitz:
„Die Wahlerfolge der rechten Parteien machen mir große Angst. Deshalb möchte ich gerade die Jugend vor diesen falschen Propheten warnen und bitte Euch von ganzem Herzen: Verteidigt unsere Demokratie.“
Der polnische Holocaust-Überlebende Bolesław Rumanowski betonte ebenfalls, wie wichtig es sei, die Erinnerung an die jüngere Generation weiterzugeben:
„Dieser Jahrestag ist für uns alle eine Gelegenheit zum Nachdenken und Erinnern. Wir müssen derer gedenken, die gestorben sind, und derer, die überlebt haben. Es ist unsere moralische Pflicht, die Erinnerung an den Holocaust an künftige Generationen weiterzugeben.“
„Auschwitz steht für das größte Verbrechen, das Menschen Menschen jemals angetan haben. Es steht für den Zivilisationsbruch, der von Deutschland ausging. Für den Willen, das europäische Judentum zu vernichten. Für den Völkermord an den Sinti und Roma. Hier in Auschwitz endete der Rassenwahn der Nationalsozialisten in der grausamen Auslöschung von Menschenleben.“, sagte Bundestagspräsidentin Bärbel Bas in ihrer Rede. Sie ist die erste Spitzenrepräsentantin des Bundestages, die nach Auschwitz gereist ist, um an diesem Ort der schlimmsten deutschen Menschheitsverbrechen aller Menschen zu gedenken, die dort von den Nationalsozialisten ermordet wurden: der Sinti und Roma, der Juden, der Polen, der Angehörigen anderer Nationen.
Bärbel Bas würdigte am Gedenktag das Engagement der Sinti und Roma, gegen das Verdrängen und Beschweigen der Verbrechen anzukämpfen: „Die Überlebenden der Sinti und Roma, ihre Kinder und Enkel haben diesen Kampf auf sich genommen. Sie haben das Schweigen gebrochen und Deutschland mit seinen Verbrechen konfrontiert. Und sie haben auf Gleichberechtigung bestanden…. Sie haben der Demokratie und der Erinnerungskultur in Deutschland einen großen Dienst erwiesen. Heute hat das Leiden der Sinti und Roma einen festen Platz im öffentlichen Gedenken Deutschlands. Das Bewusstsein für den Völkermord an den Sinti und Roma und die historische Verantwortung ist immer noch nicht selbstverständlich. Feindliche Einstellungen und Diskriminierungen sind immer noch weit verbreitet. Wir brauchen Respekt und Akzeptanz.“
Die Marschallin des polnischen Senats, Małgorzata Maria Kidawa-Błońska, die als bisher ranghöchste Vertreterin der Republik Polen teilnahm, erklärte in ihrer Rede:
„Nach den Geschehnissen in Auschwitz haben wir in Europa geglaubt, dass die Forderung „Nie wieder!“ für immer zur Leitlinie für alle Staaten und Politiker werden würde. Heute, nach Russlands Aggression gegen die Ukraine, wissen wir erneut, dass nichts ein für alle Mal gegeben ist. Weder der Friede, noch die Demokratie, noch das Vertrauen, nicht einmal die Erinnerung. Das ist eine bittere Erkenntnis, aber es ist auch eine Erkenntnis, die zum Handeln zwingt. Ich glaube, dass die Solidarität der freien Welt mit den Völkern, die Opfer einer Aggression sind, dieses Mal nicht zu spät kommt. Und dass die entschlossene Solidarität es uns ermöglichen wird, eine Wiederholung der Tragödie zu vermeiden, die das Volk der Roma und Sinti vor achtzig Jahren ereilte. Es ist ihre Geschichte, die uns zeigt, dass die Verteidigung von Freiheit und Frieden ein ewiger Weg ist.“
Der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, verwies auf das Vermächtnis aller Ermordeten von Auschwitz, deren Asche den Boden des Vernichtungslagers bedeckt. Er betonte: „Die Erfahrung aus der Nazi-Herrschaft verpflichtet uns, die Menschenwürde und die Menschenrechte überall und für jeden zu verteidigen. Die Demokratien müssen wieder die universellen Menschenrechte ins Zentrum ihres Handelns stellen. Wir wissen, dass tausende Menschen jedes Jahr im Mittelmeer ertrinken oder in der Wüste von Libyen und Tunesien ausgesetzt werden. Das Vermächtnis der Ermordeten von Auschwitz verbietet es uns, dies gleichgültig hinzunehmen.“
„Auschwitz steht als Symbol für den Holocaust, den die Nazis an 500.000 Sinti und Roma und sechs Millionen Juden im NS-besetzten Europa verübten. Es gibt unter uns Sinti und Roma kaum eine Familie, die mit dem Namen ‚Auschwitz‘ nicht die Ermordung ihrer Angehörigen verbindet.“
Romani Rose
Auch der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Antonio Guterres, verurteilte in seinem Grußwort, dass Sinti und Roma auch in Europa weiter tradiertem Antiziganismus ausgesetzt sind.
Der Vorsitzende der Gedenkstätte Yad Vashem in Israel, Dani Dayan, drückte in seiner Ansprache seine Solidarität mit den ermordeten Sinti und Roma aus: „An diesem zentralen und symbolischen Gedenktag, an diesem schrecklichen und doch bedeutungsvollen Ort, möchte ich im Namen des jüdischen Volkes unsere tiefe Anerkennung des katastrophalen Völkermordes an den Roma und Sinti zum Ausdruck bringen, der gleichzeitig mit dem Holocaust stattfand, und mich mit Ihrem ewigen Leid identifizieren.“
Neben Angehörigen der Minderheit der Sinti und Roma aus vielen Ländern, Repräsentanten des polnischen Staates, und anderer internationaler Institutionen und Organisationen, waren auch diesmal die Botschafter verschiedener Länder und weitere diplomatische Vertreter anwesend. Zusammen mit dem Internationalen Roma Jugendnetzwerk TERNYPE organisierte das Heidelberger Dokumentations- und Kulturzentrum zudem erneut in Krakau unter dem Titel „Dikh He Na Bister” („Schau hin und vergiss nicht“) eine mehrtägige Bildungsveranstaltung mit über 200 jungen Sinti und Roma sowie Nicht-Angehörigen der Minderheit aus ganz Europa, die auch an dem Gedenkakt teilgenommen haben.
Die Gedenkveranstaltung wurde live über die Website https://www.roma-sinti-holocaust-memorial-day.eu/ gestreamt. Das Video ist dort dauerhaft mit einem breiten Informationsangebot (DE/EN/PL/Romanes) zum Holocaust an der Minderheit verfügbar.