Simone Veil
Die französische Publizistin, ehemalige französische Ministerin und ehemalige Präsidentin des Europäischen Parlamentes, Simone Veil (1927-2017), gehörte zu den herausragenden Persönlichkeiten des politischen Lebens in Europa. Als eine der großen Europäerinnen verkörperte sie wie keine andere das Streben nach Gerechtigkeit, Unabhängigkeit und Freiheit, nicht zuletzt durch ihr öffentliches Engagement und mutiges Eintreten für Menschenrechte und Völkerverständigung. Simone Veil wurde in Nizza als Tochter von Yvonne Jakob, geborene Steinmetz und dem Architekten André Jakob geboren. Die Familie war jüdisch, jedoch wurde Simone zusammen mit ihren Geschwistern Madeleine, genannt Milou, Denise und Jean in einer laizistischen und bürgerlich-republikanischen Tradition erzogen.
Im September 1943, noch vor Ankunft der deutschen Truppen, fiel die Gestapo gewaltsam in Nizza ein, richtete im Hotel „Excelsior“ ihr Hauptquartier ein und begann mit ihrer Hetzjagd auf die jüdische Bevölkerung.
Mit gefälschten Papieren gelang es Simone Veil unterzutauchen und im März 1944 ihre Abiturprüfung abzulegen. Kurz darauf wurde sie zusammen mit ihrer Familie von der Gestapo verhaftet. André Jakob wurde zusammen mit seinem Sohn Jean nach Litauen deportiert. Beide kehrten nicht wieder zurück. Denise Jakob ging zur Resistance und wurde ins KZ Ravensbrück und später nach Mauthausen verschleppt. Sie überlebte die Gefangenschaft und kehrte nach dem Krieg wieder nach Frankreich zurück. Simone, ihre Mutter Yvonne Jakob und ihre Schwester Madeleine wurden nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Die Selektion bei ihrer Ankunft überlebte die damals sechzehnjährige Simone Jakob nur, da sie vortäuschte älter zu sein. Nach acht Monaten KZ-Haft überlebte sie zusammen mit ihrer Mutter und ihrer Schwester den Todesmarsch nach Bergen-Belsen im Januar 1945. Einen Monat vor der Befreiung des KZ Bergen-Belsen durch englische Alliierte verstarb ihre Mutter an Typhus. Simone und Madeleine kehrten alleine nach Frankreich zurück.
Nach Kriegsende studierte Simone Veil Rechtswissenschaften in Paris. Ihren Berufsweg begann sie im französischen Justizministerium. Von 1974 bis 1979 wurde die Juristin Veil unter Jacques Chirac in das Amt der Gesundheitsministerin berufen. Als erste Frau auf einem Ministerposten in Frankreich bekam sie den liebevollen Beinamen „Madame le Ministre“. Und auch europaweit setzte sie Zeichen: 1979 wurde Simone Veil Präsidentin des Europäischen Parlaments. Sie war die erste Frau in dieser Funktion seit der Gründung des Parlaments im Jahre 1952. Dieses Amt hatte Veil bis 1982 inne. Neben Helmut Kohl und François Mitterand avancierte sie zu einer der Galionsfiguren der europäischen Gemeinschaft. Von 1993 bis 1995 war sie unter Edouard Balladur als Staatsministerin für die Ressorts Soziales, Gesundheit und Stadtwesen zuständig. Drei Jahre später erfolgte ihre Berufung als Mitglied des Verfassungsrates an das französische Verfassungsgericht.
Simone Veils Engagement für die Wahrung der Menschenrechte in der europäischen Gemeinschaft gehen nicht zuletzt auf ihrer eigenen Erfahrung mit dem Nazi-Terror zurück, Erfahrungen, die ihr Leben nachhaltig prägten. „Der Holocaust ist unser aller Erbe“, sagte sie in einer Rede vor dem Europarat in Straßburg. Aus dieser historischen Verantwortung heraus erwachse für sie wie für jede Europäerin und für jeden Europäer eine gemeinsame Pflicht: „der Kampf zum Schutze der Würde und der unveräußerlichen Rechte der menschlichen Person“. Auch im Deutschen Bundestag mahnte sie 2004, die Vergangenheit nicht zu vergessen, da ein Lernen aus den tödlichen Fehlern der Geschichte Grundvoraussetzung für die Gestaltung eines Europas der Bürgerfreiheiten ist, einem Europa, das für Frieden und die Achtung der Menschenwürde eintritt. Im Zentrum dieser Erinnerungsarbeit steht dabei für Simone Veil ein würdiges Gedenken der Opfer des Nationalsozialismus. Viel früher als andere Politiker plädierte sie deshalb für eine gleichwertige Anerkennung aller Verfolgungsopfer dieser Zeit. „Unsere Schicksale sind miteinander durch dieselbe Pflicht zum Gedenken verknüpft“, wie sie in ihrer 2007 erschienenen Biographie „Une vie“ betont.
Bereits 1979, noch vor ihrem offiziellen Antrittsbesuch in Deutschland, nahm Simone Veil in ihrer Funktion als Präsidentin des Europäischen Parlaments an der Gedenkkundgebung der Sinti und Roma im ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen teil und setzte damit ein europaweites Zeichen. In ihrer Rede betonte sie ihre uneingeschränkte Solidarität gegenüber den Sinti und Roma und ihre „besondere Treue gegenüber allen Opfern der Nazi-Gräuel“. Den Kampf der Sinti und Roma um ihre Anerkennung als Opfer der rassenideologischen Verfolgung durch die Nationalsozialisten bezeichnete Veil als fundamentalen „Kampf für die Menschenrechte“. Mit dieser ersten europäischen Gedenkkundgebung und Simone Veils eindrucksvollen Rede wurde das öffentliche Bewusstsein für das Verfolgungsschicksal und das Leiden der Minderheit in der Zeit des Nationalsozialismus geschaffen.
Der von Simone Veil ausgehende politische Impuls legte nicht nur einen wichtigen Grundstein für die Bürgerrechtsarbeit der Sinti und Roma sondern auch für die spätere Anerkennung des Völkermordes an den 500 000 Sinti und Roma im nationalsozialistisch besetzen Europa durch die Bundeskanzler Helmut Schmidt und Helmut Kohl. Ihr Plädoyer für die Gleichbehandlung des nationalsozialistischen Völkermordes an den Sinti und Roma mit dem Völkermord an den Juden zog sich als ein roter Faden durch Simone Veils politisches und gesellschaftliches Engagement. „Sinti und Roma haben dasselbe Schicksal erlitten, wie die Juden“, schrieb sie in ihrer Biographie. Daher sei es abwegig, so Veil in ihrer Rede vor dem Europarat im Jahr 2002, „dass ihr tragisches Schicksal noch heute so weitgehend unbekannt bleibt. Wie die Juden wurden auch sie allein wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe verfolgt“. Auch die Sinti und Roma beweinen ihre Toten, die in den Konzentrationslagern ermordet und in den Krematorien verbrannt wurden, an Orten wie Bergen-Belsen, an denen, so Veil, „die Asche aller unserer Eltern vereint ist“.
Der Zentralrat, das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma und die Manfred Lautenschläger Stiftung brachten im Namen der in Deutschland und Europa lebenden Sinti und Roma mit der Vergabe des Europäischen Bürgerrechtspreises der Sinti und Roma 2010 an Simone Veil ihre besondere Wertschätzung für eine Frau zum Ausdruck, die sich mit ihrem politischen und moralischen Gewicht, ihrem vorbildlichen gesellschaftlichen Einsatz um die Anerkennung des nationalsozialistischen Völkermordes an den Sinti und Roma in beispielhafter Weise verdient gemacht hatte. Stets betonte sie die historische Dimension des nationalsozialistischen Völkermordes an den Sinti und Roma und war bestrebt, den Opfern der Sinti und Roma ebenso wie den jüdischen Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Sonderpreisträgerin Ágnes Daróczi
Ágnes Daróczi ist seit Jahren eine engagierte Menschenrechtlerin für die ungarische Roma-Minderheit, der sie auch selbst angehört. 2010 war sie die treibende Kraft für ein Projekt, das der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma im Sommer für Roma-Familien in Ungarn organisierte, die Opfer von rassistischen Mord- und Brandanschlägen wurden. Gemeinsam mit Freiwilligen des Internationalen Bauordens wurden an drei Projekt-Orten fünf durch Brandsätze und Vandalismus zerstörte Häuser wieder instand gesetzt
Durch ihren jahrzehntelangen unermüdlichen Einsatz als Wissenschaftlerin und Journalistin hat Ágnes Daróczi den nationalsozialistischen Völkermord an den Sinti und Roma in das öffentliche Bewusstsein gerückt. So organisierte sie anlässlich des 50. Jahrestages des nationalsozialistischen Völkermordes an Sinti und Roma den ersten ,,Roma-Tag“ im ungarischen Fernsehen. Das, gemeinsam mit ihrem Mann János Bársony, verfasste Buch „Pharrajimos : Das Schicksal der Roma im Holocaust“, das 2004 erschien und 2008 ins Englische übersetzt wurde, gehört zu den grundlegenden Arbeiten über den Völkermord an Sinti und Roma und dokumentiert erstmals die Verfolgungen in Ungarn. Dass heute der internationale Gedenktag für die Opfer der Sinti und Roma in Budapest mit Beteiligung der ungarischen Regierung begangen wird, geht ebenso auf das Engagement von Àgnes Daróczi zurück, wie die Errichtung des nationalen Mahnmals für die Opfer des Völkermords im Budapester Nehru-Park.
Ágnes Daróczi setzt sich mit Ausdauer und mit bemerkenswerter Diplomatie mit allen Formen von Rassismus und Antiziganismus in Ungarn auseinander. Bereits 1990 gründete sie die erste unabhängige Roma-Organisation Phralipe. Von 1992 bis 1998 war Sie die Chefredakteurin der ersten Roma-Sendung im ungarischen Fernsehen, dem ,,Patrin Magazin“. Die erste Roma-Kunstausstellung in Ungarn entstand unter ihrer Leitung im Jahre 1970. „Kultur wurde ein künstlerisches Werkzeug in einem politischen Kampf“, sagte sie 2008 anlässlich der Eröffnung einer Ausstellung zeitgenössischer Roma-Kunst in der Nationalgalerie.
Ágnes Daróczi couragierte Arbeit konfrontiert nicht nur die Regierung und die Öffentlichkeit in Ungarn mit dem Fortbestehen von Vorurteilen und Diskriminierungen gegenüber der dort lebenden Roma-Minderheit, sie ist auch beispielhaft für Deutschland und für die nationalen Minderheiten der Sinti und Roma in Europa.
Sonderpreisträger „Der Fall Ostrava“
Im Jahr 2000 richteten sich 18 Roma-Jugendliche aus dem tschechischen Ostrava, vertreten durch das European Roma Rights Center (ERRC) und einen tschechischen Anwalt, mit einer Klage wegen rassistischer Diskriminierung im Bildungssystem der Tschechischen Republik an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Roma-Minderheit sowie durchgeführten Tests sollten die Schüler pauschal in Sonderschulen für Kinder mit Lernschwierigkeiten untergebracht werden.
Am 14. November 2007 erhielten die Kläger Recht: Die Isolierung der Roma-Schüler in Förderschulen stelle eine „indirekte Diskriminierung“ dar und sei somit ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot und ein unzulässiger Eingriff in die Sicherung auf Erziehungsrecht. Dieses Gerichtsurteil wurde zum Präzedenzfall. Zum ersten Mal erkannte das Europäische Gericht für Menschenrechte eine Verletzung des Artikels 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention im Bereich des öffentlichen Lebens an. Die Entscheidung zugunsten der Jugendlichen verpflichtet die Tschechische Republik sowie alle anderen Mitgliedsstaaten des Europarates, einheitliche Rechtsvorschriften über das Verbot der Diskriminierung von Angehörigen der Minderheit im Bildungssystem zu erlassen.
Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte und der Kampf der Roma-Jugendlichen um ihr Recht auf Gleichbehandlung sind politisch nicht ungehört geblieben. Zwar gehören laut ERRC diskriminierende Selektionen im Bereich der Schulbildung immer noch in vielen Ländern Europas zur bedauernswerten Praxis, die Tschechische Republik jedoch reagierte. In 2009 gab sie zusammen mit verschiedenen Organisationen zwei Berichte zur Ausbildungs- und Bildungssituation von Roma sowie zur Gleichstellung und Integration von Angehörigen der Minderheit in den Schulalltag in Auftrag. Der erste Bericht bestätigte einen überproportionalen Anteil bei der Unterbringung von Roma-Kindern in Sonder- und Förderschulen, der zweite untersuchte die Defizite in den Integrationsbemühungen der Minderheit in staatlichen Schulen. Als Folge daraus entwickelte die Regierung einen „National Action Plan on Inclusive Education“ (NAPIV), der eine Gleichbehandlung von Angehörigen der Roma-Minderheit garantieren soll. Dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen und Defizite zu beseitigen, bleibt jedoch weiterhin Aufgabe der Regierung.
Denisa Mikova, eine der Roma-Jugendlichen aus Ostrava, wurde der Besuch einer weiterführenden Schule seitens der Schulbehörde mit der Begründung verweigert, sie müsse ihren Mutterpflichten nachkommen. Seit dem setzt sie sich dafür ein, ihre weiterführende Schulausbildung abschließen zu können, um später einmal zu studieren. Ohne eine gute Schulbildung wird sie ihr Ziel jedoch nicht erreichen. „Ich möchte nach meinem Studium einen angesehenen Beruf erlernen, der es mir ermöglicht, mich selbst und meine Fähigkeiten zu verwirklichen, auch, damit mein Kind einmal bessere Zukunftschancen hat und nicht mehr wie ich für sein Recht auf Gleichbehandlung kämpfen muss.“