2012: Gedenk- und Bildungsreise nach Auschwitz

Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma fährt seit 1985 regelmäßig mit einer Delegation von Holocaustüberlebenden, begleitet von ihren Familien und Angehörigen der Ermordeten, nach Polen, um den am 3. August Getöteten und unzähligen weiteren Opfern des nationalsozialistischen Völkermords zu gedenken. 2011 schloss sich das Dokumentations-und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma erstmals offiziell mit einer Gruppe junger Menschen aus Minderheits- und Mehrheitsgesellschaft an. Im Fokus stand der Dialog zwischen den Jugendlichen und mit den Überlebenden am Gedenkort. In der Umsetzung erwies sich das Konzept als sehr erfolgreich. Aus gegenseitigem Interesse und vielen langen Gesprächen entstand bereits auf der Busfahrt nach Krakau ein harmonisches Gruppengefüge. Verschiedene Perspektiven stellten kein Hindernis, sondern vielmehr Anlass zu regem Austausch dar. 2012 fuhr unser damaliger Praktikant Jonathan Prunzel mit. Hier schildert er seine Eindrücke:

Sonntag, 29. Juli 2012

14 Stunden Busfahrt

Bevor wir uns auf den 1000 km weiten Weg nach Krakau machen konnten, hieß es erst einmal warten, da sich die Abfahrt um etwa 45 Minuten verzögerte. Vollzählig starteten wir dann um 8:30 Uhr mit ganz unterschiedlichen Vorstellungen und Erwartungen an den neuen Ort.

Montag, 30. Juli 2012

Der erste Tag in Krakau

Als drittgrößte Stadt Polens lässt sich Krakau am besten zu Fuß und auf eigene Faust entdecken, was wir im Rahmen einer Stadtrallye machten. Die Sieger bekamen ein Halsband mit einem Drachen als Anhänger, dem Symbol der Stadt Krakau, sowie regionale Pralinen.

Nach dem ersten Kontakt mit der oft sehr fleischhaltigen polnischen Küche erfuhren wir, dass in Polen etwa 30.000 Roma leben, einige von ihnen bereits seit 300 Jahren, andere erst seit Mitte der 1970er Jahre. Die meisten von ihnen sind gut in die Gesellschaft integriert, pflegen aber im Privaten ihre eigene Sprache, das Romanes, und ihre Bräuche.

Seit dem Ende des Kalten Kriegs hat sich die Lebenssituation der Sinti und Roma in Polen deutlich verbessert. Trotzdem ist ihr Alltag weiterhin von Benachteiligungen und Vorurteilen geprägt.

Unsere Reisegruppe bestand sowohl aus Mitgliedern der Minderheit, als auch aus Vertretern der Mehrheitsgesellschaft, was die Diskussion sehr anschaulich und lebhaft gemacht hat, sodass beide Seiten davon profitieren konnten.

Vor dem Besuch des ca. 60 km entfernten, ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau, notierten wir unsere Vorstellungen des Ortes, um zu sehen, wie sich diese im Laufe der Woche verändern

Dienstag, 31. Juli 2012

„… am Ende kommen Touristen“

Ein merkwürdiges Gefühl kommt auf bei der Fahrt an den Ort der Symbol einer bisher einmaligen Vernichtung menschlichen Lebens ist. Trotz vieler anderer Touristen gelingt es uns, bei der Führung durch das Stammlager einen Eindruck von der Dimension des ehemaligen Lagers zu bekommen, in dem ca. 1,5 Millionen Menschen von den Nationalsozialisten in insgesamt drei Lagern ermordet wurden. Dieser Ort, als Symbol gegen das Leben, bekommt durch Ausstellung persönlicher Gegenstände der Häftlinge, wie Brillen, Geschirr oder ihrer Haare dennoch eine menschliche Seite.

Die Stille auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau steht im starken Kontrast zum Stammlager und gibt dem Besuch eine besondere Atmosphäre. Vom Lager selbst stehen nur noch wenige originale Bauwerke, so wurden die Gaskammern und die Krematorien durch die Nationalsozialisten zerstört. Der sehr unterschiedliche Zugang zu der Geschichte des Lagers gibt jedem Besucher die Möglichkeit, sich sein eigenes Bild des Ortes zu machen. Dies gilt auch für den Umgang mit originalen historischen Gegenständen, während diese im Stammlager hinter Panzerglas aufbewahrt werden, werden in Birkenau einige persönliche Gegenstände der Häftlinge bewusst der Witterung ausgesetzt, sodass der Besucher den Prozess des Verfallens beobachten kann. Der eingleisige Schienenstrang, der in das ehrmalige Lager Birkenau herein, aber nicht wieder herausführt, unterstreicht, dass es für die meisten Häftlinge nur einen Weg in das Lager gab. 

Eine Reise in die eigene Geschichte war die Gedenkstätte für einige aus unserer Gruppe, so zeigte sich ein Jugendlicher bewegt, dass er „endlich den Ort sehen konnte, an dem meine Vorfahren gestorben sind“

Mittwoch, 1. August 2012

Ein Auftrag an die Jugendlichen

Die Gedenkfeier für die 2900 in der Nacht zum 2. August 1944 im damaligen Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau ermordeten Sinti und Roma bestand aus zwei Teilen: Einer Kranzniederlegung am Mahnmal für alle durch die Nationalsozialisten getöteten Menschen am ehemaligen Krematorium V, sowie einem offiziellen Staatsakt am 2. August am ehemaligen sogenannten Zigeunerlager.

Der Vorsitzende des Bündnisses für Demokratie und Toleranz, Dr. Gregor Rosenthal, drückte seinen „großen Respekt“ davor aus, dass die Holocaust-Überlebenden den Mut gefunden hätten, nach Auschwitz zu kommen. Gleichfalls ermutigte er die mitgereisten Jugendlichen zum Dialog mit den Überlebenden, da sie „diejenigen seien, die irgendwann die Interessen der Minderheit vertreten müssen, wenn die Überlebenden dies nicht mehr selbst können“. Auch sei Benachteiligung und Ausgrenzung der Sinti und Roma in Europa „kein historisches Problem“, sondern, wie aktuelle Beispiele in verschiedenen Ländern Europas zeigen, auch heute weit verbreitet

Dem Vorsitzenden des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, geht es, unter dem Eindruck rechtsextremer Übergriffe auf Angehörige der Minderheit,  „nicht um Sinti und Roma allein“, sondern darum, die Demokratie in Europa zu verteidigen.

Das Mahnmal, an dem die Kranzniederlegung in kleinem Rahmen stattfand, gedenkt in vier Sprachen – Polnisch, Englisch, Hebräisch und Romanes – den Menschen, deren Asche dort liegt.

Zurück in Krakau besichtigten wir das ehemalige Ghetto, Drehort des Spielberg-Films „Schindlers Liste“, der dokumentiert, wie der deutsche industrielle Oskar Schindler Juden vor der Deportation rettete.

Donnerstag, 2. August 2012

„Wenn ich meinen Hut abnehme, dann rennt um Euer Leben“

„Gespannt“ und „neugierig“ waren die Teilnehmer unserer Gruppe vor Beginn des Staatsakts an diesem offiziellen polnischen Gedenktag. Neben Ansprachen von offizieller Seite hörten wir auch Zeitzeugenberichte von Überlebenden des Holocausts, beispielsweise von Zoni Weisz, der mit unserer Gruppe im Anschluss an den offiziellen Teil über seine Flucht vor der Deportation durch die Nationalsozialisten im Durchgangslager Westerbork berichtete. Der Satz „Wenn ich meinen Hut abnehme, dann rennt um Euer Leben“ eines niederländischen Polizisten ermöglichte dem damals Siebenjährigen die Flucht, jedoch um den Preis, seine Familie zurück lassen zu müssen, die in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau gebracht wurde. Nachdem er einige Zeit bei Bauern oder nur im Wald gelebt hatte, konnte er bis zum Kriegsende bei seinen Großeltern unterkommen, die keine Sinti waren. Stark von den Kriegserlebnissen traumatisiert, schaffte Weisz es, vor allem durch seine Arbeit als Florist, aber auch mit der Unterstützung seiner Frau, das Erlebte zu verarbeiten. 

So nahmen wir den Auftrag vom Vortag, den Dialog mit den Holocaust-Überlebenden zu suchen, gerne an und erhielten so einen authentischen Zeitzeugenbericht.

Samstag, 4. August 2012

Die Reise nach Auschwitz hat mich geprägt, weil…

Der Austausch mit anderen Reiseteilnehmern, eine Reise in die persönliche Geschichte oder auch ein Eindruck von der Dimension des nationalsozialistischen Völkermordes in Auschwitz sind nur einige der Gründe, warum die Reise nach Auschwitz ihre Teilnehmer geprägt hat. Jeder konnte dabei etwas mitnehmen, während manche den Ort sehen konnten, an dem ihre Verwandten gestorben sind, lernten andere das Leben der Sinti und Roma kennen, während auch jeder Einzelne vom guten Zusammenhalt der Gruppe profitierte.

Trotzdem es schwer fällt, die Eindrücke einer solch eindrucksvollen Woche zusammenzufassen, haben wir uns in Kleingruppen zusammengesetzt und mit Hilfe unseres gesammelten Film-, Bild- und Tonmaterials unsere eigenen Präsentationen entwickelt, die unsere ganz persönliche Sichtweise auf diese Woche gezeigt haben.

Was bleibt, sind viele neue Eindrücke, ein wenig mehr Verständnis des Lebens der Sinti und Roma, nicht nur in der Zeit des Holocausts, und die Vorfreude auf das nächste Zusammentreffen der Gruppe in Berlin, bei der Einweihung des Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas.

Die Konzentrationslager in Auschwitz:

  • ehemaliges „Sachsengängerlager“
  • unter den Nationalsozialisten auf drei Hauptlager erweitert: Das Stammlager (Auschwitz I), Auschwitz-Birkenau (Auschwitz II), sowie das Nebenlager Monowitz (BUNA) der IG Farbenindustrie
  • in Auschwitz wurden etwa 1,5 Mio. Menschen ermordet
  • In der Nacht zum 2. August 1944 wurde das so genannte „Zigeunerlager“ in Auschwitz-Birkenau geräumt, wobei 2900 Sinti und Roma ermordet wurden
  • Der 2. August wurde in Polen zum nationalen Gedenktag an die von den Nationalsozialisten ermordeten Sinti und Roma